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Diverse Writings 22

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Freiheit und Blindheit(1)

Michael Eldred

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artefact text and translation
Cologne,
Germany

Last modified 20-May-2015
Version 1.1 May 2015
Version 1.0 Jan.-May 2014
First put on site 26-May-2014
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Heidegger sagt, "Die Wissenschaft denkt nicht".
Ich sage, "Die Gelehrtenforschung denkt auch nicht".

Inhaltsverzeichnis

Als e-Broschüre

0. Abstract

1. Menschliche Freiheit als Anfangsein unter Führung des Geists

1.1 Der Geist: offene Zeitlichtung

2. Das Wert-Schätz-Spiel miteinander in der Welt

2.1 Wert als Potential eines Wer oder eines Was

 3. Macht und Freiheit 

3.1 Spielarten der gesellschaftlichen Macht
3.2 Soziale Gerechtigkeit und Freiheitswagnis

  4. Blindheit dem freien Machtspiel gegenüber

4.1 Die Macht überhaupt traditionell mit der produktiven Kraft ontologisch gleichgesetzt

5. Wirkkausale mathematische Berechenbarkeit

5.1 Erweiterung des mathematischen Blicks
5.1.1 Die reale, lineare Zeit
5.2 Vergewaltigung sozialer Phänomene durch die mathematisch berechenbare Wirkkausalität

6. Das Subjekt gibt es nicht

6.1 Der Mensch: ein Spieler im Wertschätzspiel

7. Die innerhalb der Zeitlichtung statt-findende Welt 

 

0. Abstract

Die Freiheit ist ein facettenreiches Phänomen mit vielen Gesichtern. In ihrem Kern liegt aber das Anfang-sein-können des Einzelnen. Dieser Ansatz wird genommen, um daraus das freie Wert-Schätz-Spiel der Menschen miteinander in der Welt zu entwickeln. Dabei wird es ersichtlich, daß die Freiheit die wesenhafte Kehrseite der Macht ist, so daß das Spiel der Freiheit zugleich ein Spiel der Mächte ist. Die neuzeitliche Wissenschaft aber versucht, alle Macht wirkkausal als produktive Kraft zu verstehen und möglichst mathematisch berechenbar zu machen, selbst wenn es um Phänomene der grundlosen gesellschaftlichen Machtspiele geht. So macht sie sich blind für die Phänomene des Miteinanders, so daß der sozio-ontologische Kompaß gründlich aus dem Lot ist. Die Menschen sind in Wahrheit nicht Bewußtseinssubjekte einer objektiven Außenwelt gegenüber, sondern Spieler, dem Wert-Schätz-Spiel ausgesetzt, worin ihre verschiedenen Fähigkeiten, Kräfte, Vermögen im freien Machtspiel mit-, für- und gegeneinander sowie aneinander vorbei zur Entfaltung kommen können. Dieses Machtspiel findet in der eingeräumten Welt statt, die wiederum in der Zeitlichtung eingebettet ist. 

1. Menschliche Freiheit als Anfangsein unter Führung des Geists

Als junger Mensch sieht ja jeder solche Dinge selbst am verschwommensten, als alter Mensch jedoch am schärfsten.

Ne/oj me\n ga\r w)/n pa=j a)/nqrwpoj ta\ toiau=ta a)mblu/tata au)to\j au(tou= o(r#=, ge/rwn de\ o)cu/tata
Platon Gesetze IV 715e


 Eine grundlegende Wesensbestimmung der menschlichen Freiheit, die bereits von den Griechen in ihrer Philosophie begrifflich ausgearbeitet wurde, liegt im unscheinbaren griechischen Wort a)rxh/, 'Anfangsein', das in verschiedenen Verwandlungen und Zusammensetzungen eine prominente Rolle in der Philosophie Platons und Aristoteles' spielt. Die Griechen erfahren das Lebendige als eine Seinsweise, wonach ein Lebendes den Anfang seiner eigenen Lebensbewegtheit in sich trägt, statt lediglich von anderem bewegt zu werden. Pflanzen, Tiere und Menschen bewegen sich von sich aus und sind so e)/myuxon, 'beseelt'. Sie haben in sich einen Anfang, ein Prinzip von Bewegtheit und können so sich selbst auch ändern. 

Was den Menschen als ein Lebewesen von anderen Lebenden unterscheidet, ist, daß seine Selbstbewegtheit durch Einsicht (nou=j, fro/nhsij) vor allem auf ein Ziel (te/loj, skopo/j) hin um eines Zwecks (ou(= e(/neka) willen geführt wird, so daß, begleitet von der Einsicht in seine Lage, unter günstigen Umständen seine Handlungen (pra/ceij) zum Ziel führen können. Der Mensch kann seine eigenen Ziele von sich aus setzen, sich so darauf entwerfen und seine Lebensbewegungen darauf hin richten. So handelt der Mensch aus einem Anfang auf ein durch Einsicht, Überlegung (bou/leusij) und Einschätzung (tima=n) selbstentworfenes Ziel hin und ist insofern frei. Ein Mensch, der blind ohne Einsicht und Überlegung handelt, ist unfrei

1.1 Der Geist: offene Zeitlichtung(2)

'Phänomenóphasis'

Das größte Übel 
Daß man Anwesenheit als 'Phänomen' 
nicht anerkennen will — (vgl. Goethe) 
und noch weniger als Urphänomen die 
Befugnis-Gegend 
als das lichtende Gegendliche — 
das schlechthin Ungegenständliche — 

Auszüge zur Phänomenologie aus dem Manuskript 'Vermächtnis der Seinsfrage' (1973-75) II 125 
Jahresgabe der Martin Heidegger Gesellschaft 2011/12


 Die Selbstsetzung eines Ziels setzt wiederum an sich voraus, daß der Mensch Einblick in die zeitliche Dimension der Zukunft hat — freilich nicht in dem Sinn, daß er die Zukunft voraussehen könnte, sondern im Sinn, daß er seine Handlungen und so sich selbst von sich aus auf diese offene zeitliche Dimension hin zu entwerfen vermag. Daß er seine eigene Lage überlegen, einsehen und einschätzen kann, setzt, ohne daß er dies eigens wissen muß, voraus, daß er auch den zeitlichen Dimensionen der Gegenwart und Gewesenheit offen ist, und zwar auf eine Weise, daß die drei zeitlichen Dimensionen oder Ekstasen in seinem Geist eine kohärente, gefügte Einheit bilden. Der Mensch besitzt also einen doppelten oder gar dreifachen zeitlichen Blick — und zwar gleichsam 'gleichzeitig'. Der Geist ist ein Wesensmerkmal des spezifisch menschlichen Lebewesens und so führender Aspekt der spezifisch menschlichen Psyche oder Seele. Auch wenn sich die Griechen und dann alle Folgenden — insbesondere im Christentum — den Geist als einen Teil der Seele und die Seele als im menschlichen Körper verortet vorstellen, sind solche Vorstellungen gänzlich irreführend, denn schon bei der Psyche handelt es sich nicht um Dinge, die irgendwo verortet werden könnten, sondern um Seinsweisen, d.h. um Weisen an- und abzuwesen. 

Der menschliche Geist ist wesentlich durch seine Offenheit zur dreidimensionalen Zeit gekennzeichnet. Diese offene Zeitdimensionalität kann als die Zeitlichtung bezeichnet werden. Der Geist und die Zeitlichtung gehören wesenhaft zusammen und sind demnach das Selbe: das Da. Innerhalb der Zeitlichtung — und nur da — kann Anwesendes an- und abwesen, sich auch als solches zeigen, sich verbergen oder sich verstellt zeigen. Der menschliche Geist — und, soweit wir wissen, nur er — ist für dieses Schauspiel des An- und Abwesens sowie des Sichzeigens und -verbergens offen, kann es verstehen und ist auch davon unausweichlich gestimmt und so be-stimmt.

{Zudem kann manches (ausgedehnte) Anwesende — die 'Dinge' — einen Ort einnehmen und so den Raum einräumen.(3)  Anderes ausgedehnte Anwesende — Zeug genannt — findet seinen Platz in diesem eingeräumten Raum. So finden eine Platzmannigfaltigkeit und eine Ortschaft statt, worin sich der Geist orientiert und worauf er seine Lebensbewegtheit ausrichtet. Zunächst und zumeist ist diese Welt, die in der Zeitlichtung eingebettet und im eingeräumten Raum greifbare Gestalt annimmt, eine Alltagswelt auf der Erde und unter dem Himmel. Die alltägliche Freiheit des Einzelnen in der Welt besteht nun darin, auf seinen eigenen Selbstentwurf hin handeln zu können. So ist er ein Anfang, sozusagen der 'Prinz' seines eigenen Lebens. Auch wenn seine Handlungen nicht unbedingt erfolgreich zum Ziel führen, hat er die Möglichkeit oder das Potential (du/namij), sich frei auf ein künftiges Ziel hin zu entwerfen und demgemäß zu handeln.} 

2. Das Wert-Schätz-Spiel miteinander in der Welt(4) 

Oi( polloi\ de\ dokou=si dia\ filotimi/an bou/lesqai filei=sqai ma=llon h)\ filei=n. dio\ filoko/lakej oi( polloi/: u(perexo/menoj ga\r fi/loj o( ko/lac, h)\ prospoiei=tai toiou=toj ei)=nai, kai\ ma=llon filei=n h)\ filei=sqai: to\ de\ filei=sqai eggu\j ei)=nai dokei= tou= tima=sqai, ou(= dh\ oi( polloi\ e)fi/entai
Die meisten jedoch scheinen durch ihre Liebe zur Wertschätzung eher geliebt werden zu wollen als zu lieben. Deshalb lieben die meisten die Schmeichelei, denn der Schmeichler ist ein unterlegener Freund oder er gibt vor, ein solcher zu sein, und mehr zu lieben als geliebt zu werden; und geliebt zu werden scheint dem Wertgeschätzt-sein nah, was die meisten begehren. 
Aristoteles Eth. Nic. VIII 1159a13-17 

 Auch andere Menschen bevölkern die Welt und bewegen sich, sich selbst entwerfend und eigene Ziele verfolgend, durch sie. Der Einzelne teilt seine Welt mit anderen, und zwar immer schon und ontologisch ursprünglich. Um sein Leben führen zu können, muß er mit anderen zu tun haben, die alle jeweils ein sich frei entwerfender Anfang sind. Die Einzelnen verstehen sich gegenseitig als Wer mit einem gewissen Wer-Status und schätzen sich gegenseitig unweigerlich ein im Hinblick auf den jeweiligen Wert für den eigenen Lebensentwurf, wie auch immer dieser Selbstentwurf aussieht, ob selbstisch, gegenseitig, altruistisch, selbstaufopfernd oder sonstwie. Ein einzelner Wer schätzt ebenso sich selbst ein hinsichtlich seines Selbstwerts, und ein Selbstentwurf ist immer auch ein Weltentwurf, da das Selbst immer schon ein Widerschein von der Welt ist. 

Zugleich schätzen die Einzelnen die Dinge in ihrer Welt ein, die jeweils ein Was sind, in erster Linie im Hinblick auf ihren jeweiligen Nutzen für den eigenen Lebensentwurf.(5)  Sowohl im Umgang mit anderen Menschen als auch mit den Dingen spielen die Menschen also ein Wert-Schätz-Spiel miteinander sowie mit den Dingen. Jeder Einzelne schätzt sie ursprünglich auf ihren Wert (timh/) und bezieht sie so in seine eigenen Ziele mit ein. So werden die Ziele zu Zwecken um der Verwirklichung des eigenen Lebensentwurfs willen unter der Führung des jeweils mehr oder weniger einsichtigen Willens (bou/lhsij). 

2.1 Wert als Potential eines Wer oder eines Was

Der Wert eines Wer oder eines Was ist sein Potential im Hinblick auf eine Verwirklichung dieses Potentials, wobei diese Wertschätzung jeweils individuell auch auf den eigenen Selbstentwurf des Einzelnen bezogen ist. Dabei kann das Selbst auf einen engen, 'selbstischen' oder einen 'weitherzigen' Horizont hin entworfen werden. {Z.B. besitzt ein bedürftiger Mensch in seinem Verhältnis zu einem karitativ tätigen Einzelnen das Potential einer Verbesserung seiner Lebenslage durch konstruktive Hilfe. Demgemäß wird er auch als wertvoll eingeschätzt für den karitativen Selbstentwurf des Helfenden einschließlich seiner Selbstwertschätzung. Oder ein zum Verkauf angebotener Gebrauchtlastwagen wird als wertlos eingeschätzt im Hinblick auf seinen potentiellen Nutzen für einen Dachdecker, weil er seine Leiter nicht bequem darauf laden kann. Oder eine Politikerin schätzt ihren Kontakt mit einem bestimmten Journalisten als potentiell wertvoll ein, weil dieser vorhat, ein Porträt über sie zu schreiben. Oder ein begabtes Mädchen hat das Potential, eine Konzertpianistin zu werden, und wird so auch von anderen eingeschätzt.} 
 
Das Potential eines Was ist passiv bezogen auf den Wer, der es aktiv zu verwirklichen vermag. Auch ein lebendes Was wie eine Hecke oder ein Pferd ist passiv bezogen auf den aktiven menschlichen Willen, der das Was seinen eigenen Zwecken unterwirft. Das Potential eines Wer hingegen ist Kraft, Vermögen, Macht, von sich aus etwas in der Welt aktiv zu bewegen. So geht die selbst gesetzte Lebensbewegung des Wer von einem einzelnen Anfang aus. 

3. Macht und Freiheit 

Zwischen der Freiheit als Anfangsein (a)rxh/) und der Kraft, dem Vermögen, dem Potential, der Potenz, der Macht (du/namij) gibt es ein inniges ontologisches Verhältnis, denn — wie Aristoteles deutlich gesehen und in seiner Metaphysik ausgearbeitet hat — die Kraft oder Macht als Seinsweise ist eine a)rxh/ th=j metabolh=j, d.h. der herrschende Anfang einer Veränderung, eines Umschlags. Metabolh/ heißt aber auf Griechisch nicht nur einseitige Veränderung von einem herrschenden Anfang aus, sondern auch Austausch im weiten Sinn, der auch den Austausch von Waren auf dem Markt oder von Wörtern in einem Dialog einschließt. 
 
Bei der produktiven Kraft wird ein Was als Materie dem freien Anfang eines produktiven Willens unterworfen, um daraus ein Produkt herzustellen. Bei der sozialen Macht hingegen welcher Art auch immer unterwirft oder zumindest ordnet sich ein freier Wer einem anderen, überlegenen freien Wer unter, und dies kann nur geschehen, sofern der Eine auf seinen eigenen freien Willen verzichtet. In der ontologischen Bestimmung der Macht als Anfangsein einer Veränderung liegt also die ganz tiefe und einfache Problematik der Identität und Differenz von Macht und Freiheit, die die menschliche Geschichte bewegt und quält. {Das philosophische Nachdenken über diese widersprüchliche Identität hat die westliche Geschichte zutiefst geprägt.} 
 
Bereits aus der einfachen ontologischen Struktur der Freiheit als grundloses, selbst gesetztes Anfangsein einer eigenen Lebensbewegung wird ersichtlich, daß die Freiheit wesenhaft mit dem Potential und der Kraft und nicht in erster Linie mit der Verwirklichung zu tun hat. Verwirklichung heißt: in eine vollendete Gegenwart bringen, worin ein frei gesetztes Ziel end-lich erreicht ist, so daß man das Ziel gleichsam 'in Händen hält' (e)ntele/xeia). Demnach heißt Freiheit, sich frei auf einen eigenen Selbstentwurf hin ent-werfen und so ein unabgesichtertes Wagnis auf die Zukunft hin eingehen zu können. Die Zukunft ist die zeitliche Ekstase, die eine vollendete Gegenwart als Noch-nicht vorenthält und so eine der beiden Dimensionen der Abwesenheit. Die Freiheit eines selbst entworfenen Ziels um irgendeines Zwecks willen garantiert keine Verwirklichung dieses Ziels am Ende, sondern erfordert vielmehr Mut (a)ndrei/a) zu diesem offenen Wagnis. 

3.1 Spielarten der gesellschaftlichen Macht(6)  

Die Freiheit verlangt nur, daß das soziale Machtgefüge welcher Art auch immer die Chancen, einen frei entworfenen Selbstentwurf zu verwirklichen, nicht von vornherein vereitelt. Die Freiheit verkommt zur Unfreiheit in dem Maß, als die Machtspiele abgekartet sind. Es gibt verschiedene Spiel- und Kampfarten der gesellschaftlichen Macht: physische, militärische, ökonomische, politische als auch soziale im engeren Sinn des Werstatus in einer gesellschaftlichen Hierarchie. {Politische Macht besteht in der Unterwerfung unter die überlegene Macht eines Herrschers oder einer Regierung. In der Demokratie wird versucht, den Widerspruch zwischen Unterwerfung unter die Staatsmacht und der Freiheit der freien Einzelnen insofern abzumildern, als die Regierungsmacht 'letztendlich' von den Bürgern selbst in 'freien und fairen' Wahlen ausgehen soll. Bei der ökonomischen Macht(7)  etwa gibt es einerseits die Eigentümlichkeit der verdinglichten sozialen Macht mittels des verdinglichten Werts verkörpert zunächst im Geld und dann in allen Waren, allem Vermögen usw., das einen Geldpreis verlangen kann. Andererseits gibt es im ökonomischen Machtspiel auf den verschiedenen Märkten die Möglichkeit einer Verzerrung des Spiels der Kräfte durch unfaire Markthandlungen und -strukturen, in erster Linie durch Monopol- oder Oligopolmacht, die einem Monopol bzw. Oligopol — sei es einem Staats-, einem Privatunternehmen, einer Gewerkschaft usw. — eine unfaire überlegene Marktmacht verleiht, die es erlaubt, dem Markt Preise zu 'diktieren'.} 
 
Im Umgang der Menschen miteinander treffen sich Einzelne, die jeweils ein Wer sind, der jeweils ursprünglich ein freier Anfang ist, der daher nicht als ein bloßes Was passiv behandelt werden kann oder darf. Im Umgang miteinander sind sie vergesellschaftet. Entweder einigen sich die Einzelnen in einer gegenseitigen Übereinkunft, wonach sie handeln, oder der Eine ordnet sich dem Anderen unter und verzichtet insofern auf seinen freien, ungebundenen Eigenwillen womöglich um eines anvisierten Vorteils willen, aber auch wegen Einschüchterung durch die überlegene Macht des Anderen. Im Falle einer gegenseitigen Übereinkunft wird die Freiheit der einzelnen freien Willensausgänge bewahrt, indem die Einzelwillen in den gemeinsamen Willen eines Wir aufgehoben werden entweder im Hinblick auf eine gemeinsame Handlung miteinander oder im Hinblick auf einen gegenseitigen Austausch (sunallagh/) irgendwelcher Art füreinander. Im Falle einer Unterordnung bzw. Unterwerfung unter den freien Willen eines Anderen, wird eine herrschende Macht (du/namij) ausgeübt, und der Eine wird in dem Maße ein Beherrschter (a)rxo/menoj), der Andere ein Herrscher (a)/rxwn), der ein Anfang ist und bleibt. Diese Macht ist eine soziale Macht, denn sie bezieht sich auf das Miteinander der Menschen.

3.2 Soziale Gerechtigkeit und Freiheitswagnis(8)  

Bei der Freiheit in einem gesellschaftlichen Kontext kommt es darauf an, daß das Spiel der Mächte unter den verschiedenen Spielern schön und fair ist, und nicht darauf an, daß bestimmte Machtspielergebnisse erzielt werden. Freiheit liegt im Sich-entwerfen-können und nicht in einer sicheren Verwirklichung in der Gegenwart. Auf die individuelle Freiheit wird allerdings um eines Vorteils willen, der stets im Bereich der Absicherung eines bestimmten Machtspielergebnisses liegt, allzu gerne verzichtet. So verzichtet etwa ein Einzelner auf seine individuelle wirtschaftliche Handlungsfreiheit zugunsten einer Anstellung in einer Firma um der Sicherheit eines abgesicherten regelmäßigen Einkommens willen. Oder die Einzelnen unterwerfen sich freiwillig der überlegenen politischen Macht eines Staats, weil nur so die unvermeidlichen Streitereien unter den Bürgern einen über den Streit stehenden Schiedsrichter finden können. 
 
Auf die individuelle Freiheit wird {insofern um der gesellschaftlichen Ordnung willen} teilweise verzichtet{Insbesondere sichert der Staat durch das Vertragsrecht die Verwirklichung von zwischen Bürgern frei geschlossenen Verträgen. Oder die Staatsbürger unterwerfen sich freiwillig der Staatsmacht, dem Gesetz und den Vorschriften des bürokratischen Staatsapparats}, damit der Staat — als Gegenleistung für den Freiheitsverzicht und die Einmischung des Staats in die eigene Lebensführung — die Fürsorge seiner Bürger in wichtigen Lebensbereichen übernimmt. 
 
Die abgesichterte Fürsorge der Staatsbürger wird gerne soziale Gerechtigkeit genannt, die eine bestimmte Form der distributiven Gerechtigkeit darstellt, die bereits Aristoteles in das westliche Gerechtigkeitsdenken eingeführt hat. Die andere Art von Aristotelischer Gerechtigkeit, die kommutative, betrifft die Fairneß ( i)so/thj), mit der die Menschen miteinander umgehen im Spiel der gesellschaftlichen Kräfte jedweder Art{, d.h. in ihren vielfältigen Kommutationen, die nichts anderes sind als Arten des vergesellschaftenden Wechselspiels, des Interplay. Auf Deutsch in der politischen Alltagssprache bezieht sich die soziale Gerechtigkeit ausschließlich auf die durch den Staat vermittelte Umverteilungsgerechtigkeit nach unten und so auf die Verwirklichung eines bestimmten Grads des Wohlstands aller Bürger. Auf Englisch in der politischen Alltagssprache hingegen bezieht sich 'social justice' auf den fairen Umgang der Menschen miteinander in der Zivilgesellschaft und richtet sich gegen jede Art von gesellschaftlicher Diskriminierung bzw. Abwertung.} Somit hat die kommutative Gerechtigkeit des Wechselspiels in der Gesellschaft mit Freiheit zu tun, während die soziale Umverteilungsgerechtigkeit von oben herab vor allem die Absicherung eines gewissen Lebensstandards auch in der Zukunft fordert. 
 
Die soziale Verteilungsgerechtigkeit geht mit einer politischen Auffassung einher, nach der die Gesellschaft ein Gestell mit 'Stellschrauben' ist, die politisch eingestellt und ab und zu justiert werden müssen. Diese beiden grundverschiedenen Gerechtigkeitsauffassungen werden tagtäglich politisch im Gegeneinander von Rechts und Links ausgefochten, ohne daß sie als solche im Hinblick auf Potential und Verwirklichung, auf Gegenwart und Zukunft, den politischen Akteuren klar vor Augen liegen. 
 
Die Freiheit beinhaltet in erster Linie den Selbstentwurf eines Einzelnen auf seine eigene Zukunft hin, wobei er ein Risiko eingeht. Dieses prekäre Sich-frei-entwerfen-können darf nicht als bloßer Individualismus ausgelegt werden, denn die freien, unabhängigen Einzelnen können auch aus freien Stücken ihre Selbst- und Lebensentwürfe miteinander teilen, d.h. ohne daß sie dadurch ihre individuelle Freiheit einbüßen, sondern sie vielmehr im Hegelschen Sinn aufheben.. Die soziale Sicherheit hingegen beinhaltet in erster Linie die Absicherung eines bestimmten Spielergebnisses des Wechselspiels der gesellschaftlichen Kräfte, das man im voraus sicher und risikolos 'in Händen hält'. {Damit und in dem Maße erübrigt sich die Verlockung und die Herausforderung, einen Selbstentwurf ohne Absicherung zu wagen; man bleibt lieber lebensfeige auf der sicheren Seite, die man schon kennt. Die Zukunft verliert insofern ihre Gefahren. Man befriedigt seine Bedürfnisse, man erfüllt seine schon eingegangenen Verpflichtungen, man spürt seine Abhängigkeit, ohne jemals sein eigenstes, singuläres Seinkönnen zu riskieren bzw. riskiert zu haben. Der Preis für die Sicherheit wird demnach bezahlt durch den zumindest teilweisen Verzicht auf die eigene, riskante Freiheit zugunsten der gehorsamen Unterwerfung unter eine überlegene, fürsorgende Macht und des Sich-einrichtens in einem Abhängigkeitsverhältnis.} 

4.Blindheit dem freien Machtspiel gegenüber

Man könnte meinen, daß meine Ausführungen bisher sich mehr oder weniger mit dem liberalen Freiheitsbegriff decken, wonach die Individuen in Konkurrenz miteinander jeweils nach ihrem individuellen Glück streben. Diese Individuen wären dann nichts anderes als das moderne Subjekt. Zudem wäre diese liberale Auffassung der Freiheit mit einer gewissen Auslegung des philosophischen Denkens eines Aristoteles verträglich. Ich möchte auch nicht abstreiten, daß es diese Zusammenhänge und Ähnlichkeiten gibt. 
 
Aber es gibt einen tieferen Einblick, der darin liegt, daß die menschliche Freiheit die wesenhafte Kehrseite der gesellschaftlichen Machtspiele ist, denn die Lebensbewegtheit der Menschen im Wechselspiel mit-, für- und gegeneinander wie auch aneinander vorbei ist eine ständige Äußerung der den Menschen zur Verfügung stehenden Fähigkeiten, Kräfte, Mächte, Vermögen. Macht und Freiheit sind also als Anwesungsweisen verschwistert. Diese Machtspiele können fair und schön, oder aber häßlich und unschön gespielt werden; die Spieler mogeln gern um des eigenen Vorteils willen. Nicht nur ist es wichtig einzusehen, daß es verschiedene Arten bzw. Gesichter (ei)/dh) der Macht gibt, sondern auch daß all diese verschiedenen Spielarten der Macht im Kern dieselbe einfache ontologische Struktur besitzen. Politisch wird häufig lediglich unwissentlich darum gekämpft, das eine Machtspiel durch ein anderes zu ersetzen. 

4.1 Die Macht überhaupt traditionell mit der produktiven Kraft ontologisch gleichgesetzt 

Die ontologische Herkunft (geno/j) der Macht überhaupt ist die von Aristoteles ausgearbeitete Triade von du/namij, e)ne/rgeia und e)ntele/xeia, wobei die Äußerung der du/namij bzw. der Potenz die e)ne/rgeia bzw. die Bewegung selbst ist, die schließlich in die Verwirklichung der e)ntele/xeia bzw. der vollendeten, gegenwärtigen Anwesenheit mündet. {Diese einfache ontologische Struktur der Bewegung bzw. Veränderung schlechthin setzt wiederum die Zeitlichtung voraus, innerhalb derer eine Kraft sich äußert oder eine Macht ausgeübt wird. Aristoteles — sowie an sich auch Platon — hat diese ontologische Struktur zunächst am Paradigma der produktiven Bewegung, d.h. der te/xnh poihtikh/ gesehen und abgelesen, wobei freilich die Zeitlichtung für die Anwesung der Kraft und ihr Sichtbarkeit ungedacht vorausgesetzt wurde.} 
 
Aristoteles hat fatalerweise den Fall nicht in Betracht gezogen, wo es nicht nur viele verschiedene duna/meij bzw. Kräfte gibt, sondern auch, daß jede dieser Kräfte ein sich selbst setzender Anfang, d.h. ein freier Mensch, ist, so daß es in diesem Sinn freie Machtspiele gibt. Also gibt es bereits bei Aristoteles eine ontologische Blindheit den Phänomenen der Macht und der Freiheit gegenüber, sofern die Vielheit der Anfänge in der ontologischen Struktur der Bewegung nicht berücksichtigt und eigens bedacht wurde. Das Spiel der Mächte wurde grundsätzlich mit dem produktiven, effektiven Prozeß verwechselt bzw. gleichgesetzt, so daß spätestens seitdem der sozio-ontologische Kompaß im westlichen Denken aus dem Lot, und insofern die Grundorientierung fehlerhaft ist (oder gar durch einen bloß moralischen Kompaß ersetzt). Dies wird deutlich etwa bei der Aristotelischen Behandlung der Rhetorik.(9)  
 
Und diese Blindheit setzt sich bis heute fort. Wieso? Weil die Aristotelische Ontologie der Bewegung an sich die Vorlage für die moderne Wissenschaft überhaupt liefert. 'An sich' heißt hier, daß die heutige Wissenschaft trotz aller Polemik gegen Aristoteles das Paradigma der produktiven Bewegung implizit, d.h. stillschweigend und unwissentlich, übernommen hat und es in all den verschiedenen Wissenschaften — selbst der Politikwissenschaft — anwendet. {Dabei wird die vierfältige Aristotelische Kausalität auf die Wirk- und materielle Kausalität reduziert, wobei die Materie die passive Kraft besitzt, von der aktiven Wirkursache bearbeitet zu werden, um eine Wirkung zu bewirken.} 
 
So geraten alle Phänomene im Blick der modernen Wissenschaften unter das Schema der Wirkkausalität, um so alle Arten von Bewegung wissend zu beherrschen bzw. zu kalkulieren. Insbesondere und fatalerweise werden auch alle sozialen Phänomene, in denen Menschen miteinander zu tun haben, in den verschiedenen Sozialwissenschaften {wie Wirtschaftswissenschaft, Psychologie und Soziologie} unter das Schema der Wirkkausalität subsumiert, um so als moderne Wissenschaften überhaupt zu gelten. Ich komme später auf diesen Punkt noch einmal zurück (5.2 Vergewaltigung sozialer Phänomene durch die mathematisch berechenbare Wirkkausalität). 

5.Wirkkausale mathematische Berechenbarkeit(10)

Descartes hat die Blaupause für die moderne Wissenschaft überhaupt in seinen Regulae entworfen, nach denen der mathematische Zugang zu allen Phänomenen der Welt vorgeschrieben wird. Dies geht weit darüber hinaus, daß alle Phänomene bloß quantitativ meßbar gemacht werden müssen. Die erste moderne Wissenschaft ist die mathematische Physik, in der die Aristotelische Ontologie der produktiven Bewegung in Gänze stillschweigend und verflachend übernommen und lediglich mathematisiert wird. {Zunächst beschränkt sich der wissenschaftliche Blick darauf, die Ortsbewegung zu mathematisieren. Newton und Leibniz entwickeln das infinitesimale Kalkül, um die kontinuierliche Ortsbewegung zunächst der Himmelskörper, aber dann aller physischen Körper mathematisch vorausberechenbar zu machen.} 

5.1 Erweiterung des mathematischen Blicks 

Aber Schritt für Schritt wird der wissenschaftlich kalkulierende Blick auf alle Arten von Bewegung bzw. Veränderung erweitert, was durch die Entwicklung von ganz anderen Arten der Mathematik {wie Wahrscheinlichkeitstheorie, stochastischen Prozessen, linearer Algebra, Fourierreihen, Funktionalanalysis, Gruppentheorie, Topologie, Kombinatorik u.v.a.m.} bis hin zur universellen Algebra {und der Kategorientheorie} vorangetrieben wird. {Im Laufe dieser Entwicklung werden die mathematischen Entitäten immer abstrakter, indem sie sich von Zahlen und geometrischen Formen entfernen, um schließlich lediglich abstrakte Elemente einer axiomatisch postulierten, mathematischen Struktur zu werden, die nach bestimmten Operationen transformiert, d.h. bewegt, werden können.} So werden nicht nur die Bewegung eines Kometen durchs All, sondern auch etwa die möglichen Entwirrungen eines Knotens in einem Kabelbaum {oder die Entschlüsselung einer Verschlüsselung} mathematisch analysierbar. 

5.1.1 Die reale, lineare Zeit(11)  

{Die Wirkkausalität der Wissenschaft bedarf insbesondere unbedingt der linearen Zeit, die in ihr mathematisiert als eindimensionale reale Variable t begriffen wird. Ohne die reale, lineare Zeit gäbe es die mathematisierten Wissenschaften nicht, denn nicht nur wären ihre Bewegungsgleichungen nicht mehr lösbar, sondern schon zuvor könnten sie nicht einmal geschrieben werden. In der mathematischen Physik wird die lineare, reale Zeit sogar noch einmal mathematisch eingebunden als eine bestimmte Bewegung. Wenn Aristoteles die Zeit als eine arithmetische, gezählte Zahl, die von der Bewegung abstrahiert wird, metaphysisch faßt, geht die mathematische Physik noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur die Zeit als eine stetige, reale und deshalb unzählbare Variable faßt, sondern sie als die absolute Bewegung des Lichts durch das All begreift.} 
 

{Dies wird durch die spezielle Relativitätstheorie erreicht, in der die lineare reale Zeit mit dem dreidimensionalen homogenen Raum mittels der Lorentztransformationen mathematisch streng verkoppelt wird. So entsteht die sogenannte vierdimensionale Raum-Zeit (x, y, z, t) der mathematischen Physik, die in den Wissenschaften als unerschütterliche Wahrheit gilt. In der allgemeinen Relativitätstheorie wird die lineare Raum-Zeit durch die Gravitationskraft gekrümmt, so daß die Lorentztransformationen nicht mehr gelten und eine entwickeltere (Tensoren-)Mathematik vonnöten wird, aber die Zeit bleibt nach wie vor eine eindimensionale stetige Variabel.} 

5.2 Vergewaltigung sozialer Phänomene durch die mathematisch berechenbare Wirkkausalität(12)  

Alle Bewegungsphänomene werden in das Korsett vermeintlich mathematisch berechenbarer wirkkausaler Regeln hineingezwängt. Weil das produktivistische Paradigma der Bewegung für die Phänomenalität der Sozialwissenschaften nicht so recht paßt, werden sie als 'weiche' Wissenschaften gegenüber den 'harten', mathematisch exakten Wissenschaften {der Physik, der Chemie, der Molekularbiologie usw.} betrachtet. Bei den Sozialwissenschaften, in denen Menschen im Wechselspiel miteinander spielen, werden wahrscheinliche Entwicklungen aufgrund empirisch vorausgesetzter Modellszenarien ausgerechnet. Harte mathematisch axiomatische Bewegungsgesetze werden durch weichere, bloß empirische Modellvoraussetzungen ersetzt, um zu 'objektiven' Aussagen in der sozialen Forschung gemäß der experimentellen wissenschaftlichen Methode zu gelangen. {Experimentelle und andere Daten aus der empirischen Wirklichkeit werden erfaßt und mit mathematisch statistischen Methoden analysiert, um Regelmäßigkeiten, Korrelationen und dergleichen herauszuziehen. Jede andere Zugangsweise zu den Phänomenen wird a priori als unwissenschaftlich abqualifiziert, da ihr die notwendige wissenschaftliche Objektivität fehle. Diese anderen, 'subjektiven' Zugangsweisen ermangeln eines Fundaments in harten, eindeutigen, von Jedermann überprüfbaren Fakten.} 
 

Die wissenschaftliche Wahrheit liegt in der Richtigkeit der Entsprechung zwischen dem wissenschaftlichen Modell {bzw. der wissenschaftlichen Theorie} und den empirisch festgestellten Daten und Fakten. Jede Frage danach, wie die Wirklichkeit an sich in ihrem geschichtlich geschickten Wesen wahrhaft ist, wird als überholte Metaphysik zurückgewiesen, denn es geht rein um die Wirksamkeit, vor allem die praktische, der wissenschaftlichen Modelle. {Wesensfragen werden als Scheinfragen denunziert. Dabei vergißt die moderne Wissenschaft zu fragen, wie ihre wissenschaftliche Methode selbst wissenschaftlich begründet werden könnte. So überspringt sie die Frage nach ihren Grundvoraussetzungen, nämlich, die Frage danach, als Was sie das Sein des Seienden entwirft. Diese Frage muß sie möglichst unterdrücken, um ihre Vormacht sicherzustellen.} 
 

Es sollte im bisherigen Gedankengang deutlich geworden sein, daß sich soziale Phänomene im Schema der wirkkausal-produktiven Bewegung gedanklich nicht fassen lassen. Die Wissenschaften, um Wissenschaften zu sein, müssen schummeln, und d.h. ontologisch blind sein gegenüber dem spielerischen Wesen des Wechselspiels miteinander, das wesenhaft frei, und d.h. hier: grundlos, akausal ist. {Dies geht so weit, daß die Wissenschaft die Freiheit, d.h. einen sich selbst setzenden Anfang, als unmöglich leugnet. Solche Leugnung ist nur konsequent und zugleich blind. Diese ontologische Blindheit geht paradoxerweise damit einher, daß — mit der Metaphysik etwa von Leibniz, Schelling, Schopenhauer und Nietzsche — der Wille zur metaphysischen Vorherrschaft gekommen ist. Dieser metaphysische Wille ist der Wille zur unbedingt wissenden, effektiven Herrschaft über jedwede Art der Veränderung und leugnet insofern das spielerische Wesen des freien Willens.} 

6.Das Subjekt gibt es nicht

Seit Sein und Zeit (1927) ist der Rückgang vom Bewußtsein in die Erfahrung des Da-seins nirgends auf eine maßgebende Weise mit- und nachvollzogen worden. 
Im Gegenteil: die Versteifung auf das Bewußtsein hat sich verabsolutiert... 
Auszüge zur Phänomenologie aus dem Manuskript 'Vermächtnis der Seinsfrage' (1973-75) II 121 
Jahresgabe der Martin Heidegger Gesellschaft 2011/12
 
Die Neuzeit läßt sich in ihrem Wesen charakterisieren als der geschichtlich-geschickte Entwurf des Menschenwesens als Subjektivität und dementsprechend der Entwurf des dinglichen Wasseins als Objektivität. Dieser ontologische Neuentwurf kommt gedanklich zur Sprache mit Descartes, der somit als Mitentwerfer der Neuzeit gilt. Descartes entwirft das Bewußtseinssubjekt als das fundamentum inconcussum, dem die Objektivität der Außenwelt zugrunde liegen soll. Die Objektivität der Außenwelt ist für das Bewußtseinssubjekt — und nur für es — da. Dies wird freilich von der modernen Wissenschaft geleugnet, wenn sie dogmatisch postuliert, daß die Objektivität der Außenwelt von jedweder Subjektivität völlig unabhängig sei, und daß die Wissenschaft die objektive Realität bloß 'entdeckt'. Die Außenwelt 'existiere' einfach so, ganz 'objektiv' da draußen seit immer und ewig. {Die Wissenschaft versteht nicht einmal Kant, dessen Metaphysik immerhin die Objektivität innerhalb der Subjektivität konstruiert. Das Bewußtseinssubjekt versucht, die objektive Außenwelt wissenschaftlich in den Griff zu bekommen. Dabei liefert die Wissenschaft die theoretische Grundlage, worauf dann die Technologie die Objektivität auch praktisch soll manipulieren können.} 
 
Das Subjekt fungiert unhinterfragt als die maßgebende Gestalt des Menschenwesens in der Neuzeit, die heute schon längst in ihre Reife und Vollendung eingetreten ist, wo das Subjekt von der Objektivität überrollt worden ist. {Wenn die Sozialwissenschaften versuchen zu begreifen, wie Menschen miteinander umgehen, müssen sie diesen Verkehr als intersubjektiven auffassen selbst dann, wenn sie keine Intersubjektivitätstheorie ausdrücklich als Fundament nehmen. Die Erweiterung des begrifflichen Blicks von dem transzendentalen Bewußtseinssubjekt zu vielen Bewußtseinssubjekten bereitet der Wissenschaft und der modernen Philosophie großes Kopfzerbrechen, denn wie sollten all diese inneren Bewußtseine miteinander koordiniert werden? Und wie können sie überhaupt voneinander wissen?} 
 
Die Lebensbewegungen der vielen Subjekte in der Wirtschaft z.B. versucht man dadurch theoretisch in den Griff zu bekommen, daß man rationale Subjekte voraussetzt, die möglichst rational ihren eigenen ökonomischen Vorteil durch vorauskalkulierte Handlungsstrategien zu erreichen versuchen. So werden ökonomische Modelle entwickelt unter der Annahme des rational handelnden Homo oeconomicus, die eine gewisse theoretisch handhabbare Gleichförmigkeit stiftet. Insbesondere entsteht innerhalb eines solchen Ansatzes etwa eine mathematische Spieltheorie, die aufgrund plausibler Annahmen bestrebt ist, vorteilsmaximierende Spielstrategien zu berechnen. 
 
{Ein alternativer Ansatz, der ebensfalls die Regelmäßigkeiten des Wirtschaftslebens zu fassen versucht, aber Annahmen über gewisse Irrationalitäten im Verhalten der ökonomischen Akteure zuläßt, ist die Verhaltensökonomik. Grundsätzlich wird stets versucht, ökonomische Bewegungen durch Faktoren zu erklären und so vorausberechenbar zu machen. Solche wissenschaftlichen Modelle des ökonomischen Verhaltens gelten nur solange, als die Akteure ihre Verhaltensmuster nicht grundlos verändern, denn sie sind frei, dies zu tun, etwa 'aufgrund' grundloser Umschwünge ihrer individuellen oder auch gemeinsamen Stimmungslage, oder weil die Spiellage oder Spielstrategie des gesellschaftlichen Machtspiels sich grundlos ändert.} 
 
Die Frage danach, wer diese ökonomischen Akteure sind, bleibt außen vor. Von vornherein sind sie als Bewußtseinssubjekte mit einer bestimmten Rationalität und Psychologie entworfen. Man wird fragen: Was denn sonst? Erst wenn die Fixierung des Blicks auf Modellerklärungen von ökonomischen Bewegungen nachläßt, kann die einfache Frage danach, wer die ökonomischen Akteure sind, aufkommen. {Allgemeiner kann gefragt werden, wer die Menschen im gesellschaftlichen Umgang miteinander sind.} 

6.1 Der Mensch: ein Spieler im Wertschätzspiel 

Wie bereits gesagt ist der Mensch Wer im fortdauernden Wechselspiel mit anderen und mit sich selbst, in dem alle sich gegenseitig anerkennen, einschätzen und schätzen, wer sie jeweils sind. Wer du als Einzelner jeweils bist, entsteht nicht durch Introspektion in dein subjektives Innere, sondern durch einen Widerschein von deiner Welt, vor allem von den anderen in deiner Welt, wodurch du verschiedene Möglichkeiten deines Seinkönnens reflektiert siehst, mit denen du dich identifizieren kannst — oder auch nicht. Die Bewegtheit des gesellschaftlichen Lebens überhaupt ist durch das ständige Wertschätzspiel untereinander vermittelt, in dem wir gegenseitig einschätzen, wer wir jeweils sind, sowie auch den Wert der Dinge einschließlich der Erde und gar des Himmels. {Auch das Wetter z.B. wird ständig eingeschätzt.} So ist der Mensch kein Bewußtseinssubjekt, das der Welt zugrunde liegt, sondern jeweils ein Spieler im Wertschätzspiel mit-, für- und gegeneinander sowie aneinander vorbei innerhalb der Welt. Da jeder Spieler ein freier, grundloser Anfang ist, sind die Werteinschätzungen im Wertschätzspiel, die jeweils zustande kommen und wodurch der gesellschaftliche Verkehr vermittelt wird, ständig wechselnd sowie auch jähen, grundlosen, stimmungshaften Umschlägen unterworfen. 
 
Jeder Spieler ist nicht nur jeweils ein freier Anfang, sondern als solcher auch eine Quelle der Kraft bzw. der Macht. Jeder Spieler übt seine Fähigkeiten, seine Kraft, sein Vermögen, seine Macht im gesellschaftlichen Machtspiel aus, wobei diese Fähigkeiten, Kräfte, Vermögen und Mächte ständig gegenseitig eingeschätzt werden. Es gibt endlos viele Weisen, wie das werteinschätzende Machtspiel miteinander gespielt werden kann, und oft nimmt das Machtspiel eine überraschende Wendung in eine Spielart, die niemals zuvor gespielt worden ist{, nicht nur weil die von den Spielern vorgenommenen Wertschätzungen von der jeweiligen Stimmungslage abhängen, sondern vor allem weil die Denkweise, wodurch die Welt sich so-und-so als Welt zeigt und so verstehbare Gestalt annimmt, sich verschieben kann}. Das werteinschätzende Machtspiel der Gesellschaft ist also vielstufig grundlos und so auch unvorhersehbar, unberechenbar, unplanbar. 
 
Die von den Spielern vorgenommenen Wertschätzungen voneinander sowie der Dinge werden nicht im Inneren des subjektiven Bewußtseins als Vorstellungen vorgenommen, von wo aus sie dann auf die 'wertfreie objektive Wirklichkeit' draußen 'projiziert' werden. Vielmehr sind die Spieler immer schon draußen in der Welt miteinander und bei den Dingen, wobei ihr Verstehen von Welt immer schon bewertend, einschätzend ist. So existieren die Spieler immer schon und ständig als wertschätzend, einschätzend, abschätzend, überschätzend, unterschätzend, verschätzend, und sie vollziehen diese Wertschätzungen stets auch im Hinblick auf ihre eigenen freien, in die Zukunft hinein entworfenen Lebensbewegungen. 

7. Die innerhalb der Zeitlichtung statt-findende Welt(13) 

Die Welt in ihrer Räumlichkeit, wo die Dinge ihre Plätze und Orte haben, findet statt innerhalb der vorher gegebenen dreidimensionalen Zeitlichtung des Anwesens, in der Anwesendes an- und abwest. Dabei gibt es wiederum zwei Weisen der Abwesenheit, nämlich, die der Verweigerung in der Gewesenheit sowie die des Vorenthalts in der Zukunft. Auch die sinnliche Anwesenheit in der Gegenwart erschöpft nicht die Gegenwart, in der Gegenwärtiges ohne Hindernis auch unsinnlich anwesen kann. Die Spieler existieren also ursprünglich in der Zeitlichtung, innerhalb derer Welt stattfindet, wo wiederum das grundlose Wertschätzspiel unter den Spielern als Machtspiel gespielt wird. Zum Teil ist dieses Machtspiel ein Machtkampf gegeneinander, in dem sie ihre Macht nach Kräften und nach vielfältigen Strategien gegeneinander ausspielen, zum Teil ist das Machtspiel ein gegenseitiges Wertschätzen der vielfältigen Kräfte und Vermögen der Spieler mit- und füreinander, aber zumeist gehen die Spieler ohne Berührung gleichgültig aneinander vorbei. Dabei ist das Machtspiel die wesenhafte Kehrseite des Spiels der Freiheit. 
 
Solange der heutige Mensch 'selbstverständlich' davon ausgeht, daß der Mensch ein Bewußtseinssubjekt mit einem Inneren ist, das der Objektivität draußen gegenüber steht, ist er nicht in der Lage, das Wertschätzspiel als Spiel der Freiheit einfach zu sehen. Die Dichotomie zwischen Innen und Außen verhindert den Blick, da das Innere des Subjekts immer schon darauf aus ist, das Außen in seiner Bewegtheit wissend durch Wissenschaft und praktisch durch Technologie zu beherrschen. {Für das subjektive Bewußtsein gilt als wahrhaft wirklich nur das, was in der Gegenwart sinnlich, faktisch erfaßbar ist, während der freie, wertschätzende Geist sich frei durch die dreidimensionale Zeitlichtung bewegen kann. Geist und Zeitlichtung sind somit das Selbe, nämlich, das Offene für das An- und Abwesen von Anwesendem als solchem.} 
 
Im eingangs vorangestellten Motto dieses Vortrags behauptet Platon durch den Fremden aus Athen, "Als junger Mensch sieht ja jeder solche Dinge selbst am verschwommensten, als alter Mensch jedoch am schärfsten". Auf Griechisch steht für "junger Mensch" ne/oj a)/nqrwpoj, d.h. "neuer Mensch", was hier als der neuzeitliche Mensch gedeutet werden kann. Durch diese Umdeutung sagt dann das Motto, daß es der schärferen Sicht des philosophischen Nachdenkens bedarf, um die Blindheit des längst alt gewordenen neuzeitlichen Menschen zu verwinden, um so für das Wertschätzspiel frei zu werden. 
 

    Anmerkungen
    1. Herzlichen Dank an Astrid Nettling für wertvolle kritische Bemerkungen. Vorgetragen auf der V. Meßkircher Heidegger-Konferenz Freiheit und Geschick: Denkwege mit und nach Heidegger Do. 22. bis So. 25. Mai 2014, ausgerichtet von Alfred Denker und Holger Zaborowski. Die Passagen in geschweiften Klammern {} wurden in Meßkirch nicht vorgetragen. Zurück zu 1.

    2.  
    3. Vgl. hierzu meinen Aufsatz 'Out of your mind? Parmenides' message' 2012. Alle Hinweise in diesen Fußnoten auf eigene Werke enthalten wiederum detaillierte Hinweise auf ausschlaggebende Autoren der philosophischen Tradition wie etwa Heidegger, Aristoteles, Platon, Descartes, Leibniz, Marx, Hegel u.a. Zurück zu 2.

    4.  
    5. Vgl. hierzu meinen Aufsatz 'Being Time Space: Heidegger's Casting of World' 2013 insbesondere Section 3. Zurück zu 3

    6.  
    7. Vgl. hierzu mein Buch Social Ontology: Recasting Political Philosophy Through a Phenomenology of Whoness ontos, Frankfurt/M. 2008/2011 insbesondere Chap. 5 vi). Z.B.: "All social relationships are interchanges of some kind, and the interchange is always, i.e. essentially, embedded in a mutual estimation of the value of each other as who one is and what one has." Zurück zu 4
       
    8. Vgl. hierzu meinen Aufsatz 'Der Wert ist ein Spiel — Marx anders denken' 2007 Section 3. Zurück zu 5.  
       
    9. Vgl. hierzu Social Ontology a.a.O. insbesondere Chap. 10 i), sowie meinen Aufsatz 'Social Power and Government — With a focus on Hobbes' political philosophy' 2006/2011 Zurück zu 6.  
       
    10. Vgl. hierzu mein Buch Kapital und Technik: Marx und Heidegger Röll, Dettelbach 2000 insbesondere Kap. 7. Zurück zu 7
       
    11. Vgl. Social Ontology a.a.O. insbesondere Chaps. 6 v), 6 ix)f, 9 vii)ff. Zurück zu 8.
       
    12. Vgl. hierzu meinen Aufsatz 'Social Power and Government' aus Social Ontology a.a.O. Zurück zu 9.
       
    13. Vgl. hierzu mein Buch The Digital Cast of Being: Metaphysics, Mathematics, Cartesianism, Cybernetics, Capitalism, Communication ontos, Frankfurt/M. 2009/2011 insbesondere Chap. 2.7. Zurück zu 10
       
    14. Vgl. hierzu ebd. insbesondere Chap. 2.9. Zurück zu 11
       
    15. Vgl. hierzu Social Ontology a.a.O. insbesondere Chap. 8.1. Zurück zu 12
       
    16. Vgl. hierzu 'Being Time Space' a.a.O.Zurück zu 13
       

    17.  


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