kaum ständig noch

Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein


Michael Eldred


artefact text and translation
Cologne, Germany


6. Die Freundschaft: kaum dazwischen

l) Die schwierige Freiheit zum Entwurf aus der Intimität


Version 2.1 July 1996
e-mail: artefact@t-online.de


Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels


Copyright (c) 1985-1996 by Michael Eldred, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author.

    6. l) Die schwierige Freiheit zum Entwurf aus der Intimität

  1. Die Möglichkeit des verwerfenden Zerwürfnisses oder auch der weniger sichtbaren Verstimmung zwischen dir und mir dazwischen entstammt der Zweideutigkeit dazwischen, in die unsere jeweilige Ständigkeit, wonach jeder von uns an seinen Stand festhalten muß, um Wer zu sein, hineinspielt. Die Mitteilung des Anderen, deine Äußerungen in der Sprache stellen den eigenen Stand in Frage, und da ich niemals in einem vollkommenen, endgültigen Selbstentwurf stehe, sondern vielmehr mich immer wesenhaft in einem vorläufigen Entwurf abgründig aufhalte, muß ich die den Stand erschütternde Infragestellung durch dich zulassen können, wenn es nicht zu einem Zerwürfnis (oder einer Verstimmung) kommen sollte, das die gegenseitige Entwerfung dazwischen auseinanderbricht und sie offen zur Verwerfung oder versteckt zur Entfremdung verkommen läßt.

  2. Wie ist es denn möglich, daß Freunde die entwerfende Wahrheit zueinander sagen können, erstens ohne daß sie sich nur gegenseitig verletzen und zweitens so, daß eine von dem Einen ausgesprochene, den Anderen entwerfende Wahrheit letztlich, d.h. im Laufe der Auseinandersetzung, auch dem Anderen als eine Wahrheit, d.h. als ein möglicher provozierender Selbstentwurf, aufgehen und angenommen werden kann? Vorausgesetzt, daß der Eine dem Anderen im Geschehen des Sichentwerfens nicht ausweicht, und daß er die infragestellende Entlarvung durch den Anderen auszuhalten vermag, ist es darüber hinaus notwendig, daß beide das seltene Vertrauen dazwischen schätzen. Erst die Kenntnis vom kostbaren, wenn auch zuweilen unbequemen Geschenk dazwischen, und zwar nur kraft eines Gegenwesens zur Polis-Agonistik und zum sachlich vermittelten Umgang, und ohne sich in Überschwenglichkeit zu verlieren, zusammen mit der daraus erwachsenden Behutsamkeit im freundschaftlichen Umgang, gibt die prekäre Schwelle her, auf der wir im Übergang dazwischen bleiben können und selbst eine aufreibende Berührung zu überstehen vermögen.

  3. Ob die Freundschaft - vorausgesetzt, sie ist in die Nähe einer Berührung im Übergang zwischen dir und mir eingelassen - von Dauer ist (eine Freundschaft wird jedoch wegen ihrer Dimensionalität dazwischen nie beständig), hängt davon ab, inwieweit die jeweiligen männlich Seienden, du und ich, bereit sind, sich auf die Entwerfungen dazwischen einzulassen, vor allem davon, inwieweit wir in der Lage sind, sowohl den Schmerz der Entlarvung der eigenen Gestelltheit in ihrem befestigten Fürsichsein auszuhalten und dieses Fürsichsein in Fluß geraten zu lassen, als auch die Kostbarkeit des Übergangs dazwischen zu schätzen. Der Entwurf aus der Begegnung heraus bedeutet immer die Eröffnung einer anderen Offenbarkeit von Welt, in der die Seienden anders erscheinen. Warum soll ich mich auf den Schmerz eines Neuentwurfs in der Berührung überhaupt einlassen? Warum soll ich das Kreisen im Kreis meiner Selbstidentität verlassen? Warum genügt es nicht, die Herausforderung im sachlichen Umgang mit den Seienden einschließlich der Werseienden anzunehmen? Das Sich-einlassen wäre die Tat eines standfähigen, intentionalen Subjekts, das seine Welt von sich aus als Zentrum nach seinem Willen einzurichten vermag und das auch die Wahl hat, sich darauf einzulassen oder nicht. Insofern bezieht sich die Frage nur auf den Werseienden als Subjekt. Der noch subjektfähige, d.h. fürsichseiende Wer verspricht sich etwas davon, wenn er sich auf den Übergang dazwischen einläßt. Er spürt, daß inzwischen mit dem Anderen zu sein, zu schätzen ist, weil es eben den Anderen gibt, der seine Einsamkeit und sein In-sich-kreisen auszusetzen vermag. Ein solches Subjekt kann immer noch wählen und einen Tausch aus dem Sich-einlassen machen. Das Sich-einlassen auf die Berührung läßt sich nur auf dem Grund der Möglichkeit des Entwurfs seiner selbst und der Welt durch den Anderen verstehen, was mit der Freiheit zum Selbstentwurf synonym ist. Die Bewegung des Entwerfens meiner Welt bedarf sogar des kritischen Spiegels des Anderen, um der eigenen Larvenhaftigkeit, dem Haften an unangemessenen Verhaltensweisen auf die Schliche zu kommen und der Erstarrung in der allzu beständigen Identität im Spiegelblick zu entgehen. Es ist allerdings keineswegs ausgemacht, daß der Wer ein Subjekt ist, das sich freiwillig auf die Dimension dazwischen einläßt. Es gibt auch die nicht abzuwehrende Verführung und den nicht abzuwehrenden Überfall des Anderen, wodurch der Wer sich auf einmal dazwischen befindet.

  4. Da die Sprache den Werseienden grundsätzlich überragt, findet er in der Freiheit des sprachspielerischen Sich-mitteilens eine Wahrheit über sich selbst, indem er sich auch die Rede des Anderen anhört und sich etwas sagen läßt. Dazwischen gibt es keine Möglichkeit mehr der Distanzierung von dir. Ich bin in deiner Rede über mich und zu mir, von dir in dieser infinitesimalen Dimensionalität immer schon angegangen. Die Transzendenz dazwischen liegt wesentlich in meiner hörenden Erstrecktheit zu deiner Sprache hin, die durch ein Spiel der Differenzen mich neu zu definieren, zu umgrenzen und zu umreißen vermag. Dieses fremde Element, die Sprache aus deinem Mund, vermag mich zuweilen zu überfluten und zu verschieben. Ich weiß nie, was du sagen wirst, wie deine Worte kommen werden, wie du mich entwerfen wirst. Mein Selbstentwurf hängt indes davon ab; meine Selbstheit ist immer schon durch deine Andersheit infiziert, durchstimmt, eingeschnitten. Unerträgliche Ausgesetztheit dir gegenüber, die ich begehre und der ich zugleich zu entgehen trachte.

  5. Der männlich Seiende muß anscheinend nicht die Freiheit des Entwerfens dazwischen auf sich nehmen, er kann anscheinend in seinem Fürsichsein nach Kräften beharren und sich ausschließlich in der Seinsdimension der dritten Person aufhalten, aber es liegt (um Haaresbreite) nah, sich darauf einzulassen, sofern das Sein als die Ermöglichung von Welt verstanden wird, und sofern der männlich Seiende der Andersheit von Sprache aus dem Mund des Anderen nicht entgehen kann, und sofern das Sein dazwischen die Kraft zur Ermöglichung von Welt in hohem, einzigartigem Maß besitzt. Aber hier sollen keine Argumente zugunsten eines Sich-einlassens vorgetragen werden, als wäre dazwischen eine Ware, die feilgeboten werden könnte. Es geht immer nur um seinsgegebene Möglichkeiten - und d.h. zum Teil Herausforderungen - menschlichen Ek-sistierens in der Lichtung des Seyns.

  6. Gegen Heidegger, der behauptet, daß es erst die "Vereinsamung" ist, "in der jeder Mensch allererst in die Nähe zum Wesentlichen aller Dinge gelangt, zur Welt"[1], wird hier an der gegenteiligen Einsicht festgehalten, daß erst durch dich in deiner fremd-vertrauten Andersheit ich zur Offenheit der Welt als differierende Ermöglichung meiner Existenz gelangen kann. Das heißt, daß 'der Mensch' nicht nur weltbildend ist, sondern daß die Weltbildung erst durch die Kraft dazwischen geschieht. Die Weltbildung geht (auch) als Spiel der Differenz durch dich hindurch. Meine Vereinzelung, in der ich erst zu dem werde, der ich bin, ist zugleich meine Erfindung durch dich. Könnte man sogar wagen zu behaupten, daß ohne dich überhaupt keine Weltbildung geschehen würde? Daß Welt erst in der Ritze dazwischen, wo das Sprachspiel der Differenz in Gang kommt, entspringt? Daß das 'als', das sich der ontologischen Differenz verdankt, erst durch dich und vermittels dir als Medium entsteht? Ist mit der Sprache bereits du als anderer gegeben? Es scheint, die Metaphysik und sogar das nachmetaphysische Denken Heideggers haben die unscheinbare Dimension dazwischen, die kaum Dimension ist, übersehen. Wenn aber die Existenz des Daseins wesenhaft und ursprünglich Mitsein ist, gewinnt diese Dimension ein eigenes Gewicht, das denkerisch einer eigenen Sprache bedarf: der Sprache von dazwischen, wo du und ich uns begegnen. Selbstsein heißt nicht nur immer schon auch Mitsein, sondern die Selbstheit selbst ist zart und unscheinbar durch eine Erschütterung meines Selbst-Stands dazwischen vermittelt. Selbst meine Vereinsamung ist auf dich bezogen, auf dazwischen im Entzug. Die Ferne von dazwischen ist nicht nichts, sondern immer schon im Schmerz dazwischen angegangen sein. In meiner Vereinsamung ist mir dazwischen verweigert und vorenthalten, aber diese Verweigerung und Vorenthaltung sind Weisen ihres Anwesens bei mir.

  7. Das Fürsichsein, das seit Jahrhunderten in der Philosophie großgeschrieben worden ist, ist ursprünglich lädiert; es hat immer schon versagt. Es ist das Bestreben nach Ständigkeit in der Entsprechung des männlich Seienden zum geschichtlichen Schicksal der Metaphysik. Die Ver- und Entpuppung ist aber wesensnotwendig, da der Werseiende grundsätzlich, d.h. seinsursprünglich, der Andersheit des Anderen in einer anderen Dimension, in der anderen Dimension, in der zweiten Dimension ausgesetzt ist. Rückblickend auf die Gestalt des Versagers sehen wir, daß - da er die Dimension dazwischen für sich nicht entdeckt, sie nicht als solche erschließt - er im autistischen Insichkreisen untergeht. Der Versager ist eine einsame Gestalt, die sich am Fürsichsein festklammert und beim Festklammern untergeht. Sein vergebliches Bemühen um das Fürsichsein ist die Irre, die nicht einzusehen vermag, daß selbst das Fürsichsein immer schon durch das Andere des Seyns als Ständigkeit angegangen ist. Der Versager ist von seinem Schicksal blind geschlagen.

  8. Angegangen durch die Andersheit des Anderen in der Begegnung jedoch wird der Versager aus der vergeblichen Identitätsarbeit, dem sisyphusartigen Streben nach Ständigkeit entlassen. Stattdessen bricht eine Differenz in sein Selbstentwerfen hinein, da geschieht ein Einschnitt im Spiegel der mühsam zusammengekitteten Selbigkeit. Nettling formuliert: "Dieses Exzedieren des Subjekts durch das Andere ist ursächlich für seine Spaltung, für das Aufklaffen des Subjekts. Es ist ein Aufklaffen, welches das Subjekt auseinanderträgt und sich in der Bewegung des Begehrens austrägt."[2] Die Ständigkeit des fürsichseienden, sich als autark einbildenden Wer läßt sich nicht aufrechterhalten, sie wird immer wieder durch die unheimliche Verpuppung unterminiert, die nicht aus dem leeren Nichts kommt, sondern aus der zweiten Dimension dazwischen, die kaum anwest. Nicht nur ist das männliche Dasein immer schon durch das Seyn selbst und damit durch ein abgründiges Nichts angegangen, sondern durch die Faltung des Seyns selbst in seine zweite Dimension ist es lädiert und dem Anderen ausgesetzt. Die Identität des Wer ist immer schon durch differierende Andersheit infiziert, infusiert, inspiriert, da der Wer ursprünglich durch das Andere des Seyns ins Wersein gerufen wird. Das Andere: das Seyn selbst, aber auch du als die Faltung des Seyns. Der Einschnitt der Andersheit treibt letztlich den Werseienden begehrend über sich zum Anderen hinaus. Indem ich den Abschluß meiner Identität notgedrungen dazwischen hinausschiebe (defer) und dir den Vortritt lasse (defer), lasse ich Differenz (difference) zu und werde zum endlichen mitseienden Dasein, auch dazwischen.

  9. Die Rede von der Möglichkeit der Berührung soll nicht als Erbauung im Sinn einer Aufforderung zur 'Selbsterfahrung' oder 'Selbstfindung' durch die Begegnung mißverstanden werden. Die ontisch klingenden, aber Seinsdimensionen aufzeigenden Überlegungen sollen lediglich dazu dienen, das Seyn selbst und seine Dimensionen ersichtlicher zu machen. Es wird hier weder eine Kulturkritik propagiert, in deren Namen die verpanzerten Männer sich öffnen sollten, noch wird psychologisch beschrieben, wie den Männern in ihrer Einsamkeit der Weg zu ihrer Innenwelt und ihren Gefühlen oder zur Liebe verbaut sei. Das Denken hier will sich vielmehr in den ontologischen Ursprung der agonistischen Wesensweise als Wer und in die andersartige Dimension dazwischen einlassen und hält sich davon zurück, Programme zu formulieren oder gängige tiefenpsychologische Meinungen zu wiederholen. Es handelt sich 'lediglich' um eine Über-Setzungs-Arbeit der bekannten Phänomene der Männlichkeit und der Weiblichkeit (vgl. das nächste Kapitel) in Dimensionen, die die Metaphysik wesensgemäß nie zu denken vermochte. Die Bemühungen kreisen stets darum, aufzuzeigen, daß die Selbstwerdung eben nicht psychologisch zu verstehen ist als die Aufdeckung eines wahren Selbstkerns, sondern ontologisch als die jeweilige Ermöglichung eines Einzelnen durch den Entwurf von Welt dazwischen durch den Anderen. Das Selbstsein ist immer Andersein. Das Eingelassensein auf und in dieses Spiel, worin der Einzelne sich erfährt in der Ermöglichung seines jeweiligen, individuellen Weltentwurfs, bedeutet eine Entlassung aus dem Fürsichsein eines Subjekts, das Welt willentlich-intentional von sich aus entwirft, in den Übergang zwischen mir und dir.



      Anmerkungen 6. l)


    1. M. Heidegger GA 29/30 S. 8. Back

    2. Astrid Nettling Sinn für Übergänge: Zur Parergonalität des Weiblichen in der Philosophie: Versuch über die Geschlechterdifferenz Wien 1992 S.197. Back

    3. Back

    4. Back

      artefact