kaum ständig noch

Phänomenologie der Männlichkeit als Wersein


Michael Eldred


artefact text and translation
Cologne, Germany


3. We(h)rlosigkeit des Versagers

f) Ich bin


Version 2.1 July 1996
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Inhaltsverzeichnis dieses Kapitels


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    3. f) Ich bin

  1. Was kann angesichts dieser Brüchigkeit 'ich bin' bedeuten? Eine vorgeschlagene, etymologische Übersetzung von 'ich bin' lautet 'ich wohne'. Was aber heißt Wohnen? Wohnen hat mit Gewohnheit sehr viel zu tun. Im Alltag geht man seine gewohnten Wege. Solange man auf die Gewohnheiten schaut, scheint das Wohnen eine Beständigkeit und Zuverlässigkeit zu besitzen. Ich bin, ich wohne, ich gehe meine gewohnten Wege, ich folge meinem eingezeichneten Weg durchs Leben. So bin ich beständig und stetig wie ein Seiendes. Wessen aber bedarf es, um in meinen Gewohnheiten einen Halt zu finden? Ich muß mich zusammenreißen, meine Fassung in der Ruhe bewahren, mich gegen eine Selbstauflösung, einen Verlust der Fassung verwahren, der sich in einem Verschlagen der Sprache, in einer inneren Verzweiflung über gar nichts manifestiert, in einer Dramatik, die sich selbst auf die Nerven geht. Dieser Blick nach innen hat wenig mit einem Wohnen in Gewohnheiten, mit der Beständigkeit einer Lebensweise, einer Lebenspraxis zu tun. Im Gegenteil, er schlägt die Richtung in eine andere, konträre Auslegung des 'ich bin' ein, eine Auslegung, die sich von Montaignes Überzeugung beeinflussen läßt, "daß ich nur bei mir selber bin"[1]. Ich bin bei mir selber - und nur so. So bei den anderen - in ihrer Meinung über mich, im Umgang mit ihnen - bin ich nicht. "Bei mir selber" bin ich nur in der Innerlichkeit, im inneren Monolog, in den endlos schwankenden Stimmungen und Tageslaunen. Diese Innerlichkeit bedeutet natürlich auch, daß ich immer schon draußen bin in der Welt, beim Seienden, beim Mitmenschen kraft einer ursprünglichen Transzendenz, die Heidegger In-der-Welt-sein nennt, aber dieses Draußensein wird nur von innen erfahren. Das 'ich bin' ist damit eigenartig distanzlos und zugleich unfaßbar. Freilich kann ich - was ich dauernd tue - eine Distanz zu mir selber einnehmen, über mich reflektieren, einen Spiegel meiner selbst bilden und mein Selbstgespräch in der Sprache führen, aber ich bin mir noch näher in der entzüglichen Dumpfheit der Gestimmtheit, die sich nicht versprachlichen läßt, auch wenn meine Mimik und Gestik anderen viel über meine momentane Befindlichkeit verrät. Das 'ich bin' versinkt in einen Morast der Distanzlosigkeit, der sich nicht sammeln läßt, sondern vielmehr durch den Überfall der Stimmungen sich stets neu ereignet. Von diesem Morast weiß kein anderer, kann davon nicht wissen, weil da nichts zu wissen ist, und auch ich habe kein Wissen davon, selbst wenn ich stets darin verstrickt bin. Mein 'ich bin' ist somit kein gesammeltes Sein als ständiges Anwesen, es hat keine Konturen, keinen Anblick, keine Bestimmtheit, keine Definition, kein Wesen, keine Sprache. Sofern 'ich bin' eine Sache des Wohnens ist, gehe ich in meinen Gewohnheiten auf, ohne darüber Rechenschaft geben zu können, ohne restlos zu verstehen, was und wie ich handle, obwohl ich es bin, der es tut. Meine Gewohnheiten sind wie Rillen, die der Leib 'kennt' und denen er von alleine folgt. Aber der Wechsel von Trauer und Freude, Selbstzufriedenheit und Selbstverzweiflung, wer möchte das erfassen und verstehen?

  2. 'Ich bin' soll eine Beugung des 'ist' sein. In der Beugung liegt aber ein Brechen, das dem 'ich bin' niemals gerecht zu werden vermag. Bemerkenswerterweise kann man 'das Sein' sagen, aber nicht 'das Bin', als hätte das Sein schon alles über 'ist', 'bist', 'bin', 'sind' und 'seid' zusammengefaßt. Hier tut sich jedoch eine Kluft zwischen 'bin' und 'ist' auf. Zwischen 'bin' und 'ist' gibt es einen Bruch. Erst mit dem 'ist' gibt es genug Distanz, damit ein Seiendes in seinen Umrissen in den Blick - in den Blick (der Wahrheit) des Seins - kommen kann. So verhält es sich mit dem 'ich bin': 'ich bin' ist nicht, Bin ist nicht gleich Sein und ist darunter nicht subsumierbar. Das Sein umfaßt strenggenommen nur die dritte Person. Das Bin muß sofort durchgestrichen werden, weil 'ich bin' sich nicht substantivieren läßt; gleichermaßen läßt sich ich auch nicht substantivieren, ich ist nicht gleich Ich, da ich kein Subjekt, keine Substanz bin. Das Ich war immer schon eine Anpassung an das Sein, eine Anmaßung des 'ich bin', am Sein teilzuhaben. 'Ich bin' wollte sich immer schon substantivieren, eine Substanz, ein Wesen erlangen. Vom Ich zu reden ist eine Selbstverständlichkeit, die auch in die Philosophie übergegangen ist. Was aber rechtfertigt die Substantivierung des 'ich bin'? In besonders starkem Maße wird der deutsche Idealismus vom Ich, vom substantivierten Subjekt getragen, als gäbe es das Ich als ein Seiendes, von dem aus eine Welt entworfen werden könnte. 'Ich bin' ist immer vor dem Sein, jenseits des Seins, neben dem Sein als ständiger, anblickhafter Anwesung. Die Gestalt des Versagers zeigt auf dieses Danebensein.

  3. Wie schafft 'ich bin' den Sprung ins Sein? Vermutlich dadurch, daß ich mich immer schon habe rufen lassen - durch den Eigennamen. Dieser sinnlose Eigenname bildet den Kern des Ich, woran ich meine 'Substanz', mein individuelles Wesen kleben kann. Canetti beleuchtet beiläufig das Phänomen des Eigennamens als Wer-Kern in der folgenden Passage:

  4. Der Eigenname ist wie der Kern eines Kristalls, um den sich ein Kristall bildet. In kristalliner Form bin ich Ich in meinem Eigennamen als dem ersten und letzten An- und Rückhalt meiner selbst. Sowohl für mich als auch für die anderen, bin ich durch meinen Eigennamen als ein Seiendes zugänglich, bin ich als Seiendes erfaßt. Ich aber, indem ich bin, unterlaufe meine Geworfenheit ins Wersein, als wäre ich ein Ich. Diese brüchige, zerbrechliche Konstruktion des Ich ist durch und durch fingiert, aus der Zerstreuung hervorgerufen. Ich bin die Nicht-Erfaßtheit selbst, obschon mich die Sprache - und damit auch die anderen, die Gesellschaft, der Staat - schon längst erfaßt und mich dadurch mit Sein überwältigt hat. Ich bin aber auf der Flucht vor dem seienden Selbst. 'Ich bin' - dieses flüchtige Wesen - ist auf der Flucht vor dem Sein. Statt Wege zu sich selbst zu suchen, als gäbe es einen eigentlichen, beständigen Kern meines Selbst, suche ich als ich Fluchtwege. Nicht einmal muß ich sie suchen, denn 'ich bin' ist immer schon flüchtig, eine flüchtige 'Substanz', die sich von alleine verflüchtigt - aus der Griffweite des Begriffs, der Sprache, des Seins und damit der Gesellschaft und des Staats. Der Wer als Ich hingegen sucht das Sein auf, klammert sich an seinem Eigennamen, baut seinen Larvenkomplex aus, nimmt einen Stand ein und findet sein Ich in der Welt des Seienden widergespiegelt. Deshalb ist der Versager nur substantivisch Versager gemessen am Sein des Werseins. In Wahrheit aber - in der Unwahrheit des Seins, in der Wahrheit des Un-seins, des Nicht-Seins - ist der Versager 'ich bin'. Die Verpuppung ist ein Abschied vom Sein als durch den Verstand und vor allem durch das Seinsverständnis zustande gebrachter, ständiger Anwesung. Der 'eigentliche' Imago-Wer, genauer: die Imago, ist nicht, ist vom Sein nicht erfaßt, es gibt kein Bild, kein Abbild, keinen Umriß von mir, der mein Sein definieren würde. Es entpuppt sich aus der Verpuppung kein Imago-Wer als fest umrissene, seiende Gestalt, sondern höchstens ein Werseiender, der sich fiktiv um seinen Eigenname gesammelt hat. Mein gestimmter, unbestimmter Leib, in dem ich bin und wohne, hat mit dem Sein in seiner Ständigkeit nichts zu schaffen, sondern geht ihm aus dem Weg und verfolgt von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde seinen eigenen schwankenden Weg.

  5. Es ist diese Durchsetztheit mit dem Nichts des Seins oder genauer: mit dem Anders-als-Sein in der ersten Person, die den Versager zu einer lehrreichen Gestalt für das Fragen nach dem Wersein macht, denn die Leergelassenheit durch eine mangelnde Bindung am Seienden und am Sein als ständiger Anwesung bringt ihn aus einer Haltung, die auf das Seiende und nur dieses fixiert ist. Die Einsicht, daß das Seiende nicht einfach wie etwas Vorhandenes ist, sondern sich aus dem Ereignis des Seins ergibt, öffnet das Tor zum Anders-als-Sein, wo ich als ich bin. Das Wersein als Ich dagegen beinhaltet die Teilhabe des männlich Seienden am Sein als ständiger Anwesung und erfaßt insofern nicht die Schlupfwinkel, durch die der männlich Seiende aus dem Sein, d.h. aus der ständigen Identität, in eine andere Dimension herausschlüpft. Wie heißt diese andere Dimension? Ist sie wirklich Anders-als-Sein schlechthin oder lediglich Anders-als-Sein-als-ständige-Anwesung? Dies sind Fragen, die in weiteren Kapiteln nachgegangen werden müssen.



      Anmerkungen 3. f)


    1. Montaigne 'Über den Ruhm'. Back

    2. Die gerettete Zunge Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. S. 235f. Back

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    4. Back

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