Exzeß und Fraktur des Anderen.

Die Braut, die Junggesellen und ihre Zeugen
- Drei (Wunsch)szenen - 
Bernini: Die Ekstasen der Hl. Theresa; Freud: Der Traum von Irmas Injektion; Duchamp: Das Große Glas - La mariée mise à nu par ses célibataires, même.


III


Astrid Nettling


artefact text and translation
Cologne, Germany



Version 1.0 April 1992

Inhaltsverzeichnis


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    III

  1. Wie setzt Berninis Plastik ihre Eigen-Art in Szene? Wie räumt sie Sichtigkeit ein, daß gleichwohl ein "Es zeigt" ins Spiel gebracht wird, der Horizont des "Ich sehe" sich ausgesetzt findet in einem Werk, das über Visualität sich (ver)mittelt? In einer Hinsicht ist diese Spannung thematisch, bildet sie das Sujet selbst - das Sehen und die "Ekstase" und ihr besonderer Bezug zur Sichtigkeit, zur 'Vision', die "zeigt", bei der ein "Ich sehe" abwesend ist. Jedoch ist über dieses Sujet hinaus der Raum der Plastik selbst zu entfalten, ist ihr Spielraum für das Subjekt, das sieht - für den Betrachter -, in der Weise auseinander-zu-legen, daß jene Spanne zur Wirkung kommt, die den Abstand zwischen dem "Es zeigt" und dem "Ich sehe" reguliert. Wie auch der Traum seine Erinnerbarkeit berücksichtigt - die Rücksicht auf Darstellbarkeit - nimmt die Plastik Berninis den Horizont, in dem Darstellbarkeit sich organisiert, selbstverständlich auf, führt diesen aber zugleich in einen Abstand, distanziert gleichsam das Sehen von sich, leitet zu einem Differenzpunkt weiter, an dem der Horizont der Sichtigkeit zugleich verrückt ist, ent-stellt.
  2. Die Eigen-Art dieser Plastik setzt sich ab. Sie setzt sich ab in einem Gestus, den die Kunstwissenschaft als manieristisch kennzeichnet. Berninis Werk stellt anders als der klassische Gestus der Renaissance in seiner Bezugnahme auf die griechische Kunst nicht in der Weise Sichtigkeit aus, daß umfassend in ihrem Horizont Seiendes (ein)gestellt ist, in ihm Anwesendes statthat. Horizein bedeutet: die Grenzen von etwas bestimmen, etwas begrenzen, auch: einen Begriff begrenzen, bestimmen - der Horizont begrenzt, gibt den Dingen ihren je eigenen Raum, ihre Statt, macht sie dadurch ansichtig, bestimmbar. Die griechische Plastik situiert sich ganz an dieser Grenze, dem sichtbaren Horizont der Körper, und bietet sie dem Auge als die Statt seines Verweilens dar, macht sie zur Statt des ästhetischen Kunst-Genusses.
  3. Die Ekstasen der Heiligen Theresa ist ein Sakralkunstwerk.[1] Diese Plastik will etwas anderes vor Augen führen, will über den Gestus der Absetzung jene Spanne einführen, an der das Sehen an einen Punkt gebracht wird, wo es eine Ohnmacht erleidet und in ein Nicht-Sehen umzuschlagen droht. Es ist dies die Dauer einer Auslassung - ein Platz wird offen gelassen, das Offene wird verhüllt, d.h. bedeckt und gesichert zugleich -, die ihre Wirkung aus einem Außerhalb nimmt, welches der Darstellung entzogen bleibt. Spanne einer Auslassung, die Bernini mit dem Ereignis des Heiligen belegt. Über den Exzeß, die Ekstase, stellt sich dieses Ereignis ein. An einer beglaubigten Statt vollzieht sich der Einfall eines Außen in ein Inneres, geschieht der Einfall göttlicher Transzendenz in die Seele der Heiligen - ein Eindringen, das die Seelen-Statt der Ent-rückung preisgibt. "Die Seele weiß alsdann auch nicht, was sie tun soll; sie weiß nicht, ob sie sprechen oder schweigen, lachen oder weinen soll. Es ist dies eine glorreiche Verrücktheit, eine himmlische Torheit, in der man die wahre Weisheit erlernt; es ist dies für die Seele ein überaus wonnevoller Genuß."[2]
  4. Berninis Plastik inszeniert diese Spannung zwischen dem "Es zeigt" und dem "Ich sehe", indem er das Sehen zu dem Umschlagpunkt führt, wo für einen schwindenden Bruchteil der Betrachter selbst stupefactus ist - erstaunt, getroffen und außer sich, die Augen geschlossen wie die Heilige -, bevor das Sehen gleichsam immer schon von der Auslassung abgesehen hat, das Außen exzediert hält und ein Szenarium sich präsentieren läßt, die (Re)präsentation Der Ekstasen der Heiligen Theresa.
  5. Diese ist ganz in der Weise eines Schauspiels in Szene gesetzt, für das "Ich sehe" des Betrachters - ein mise-en-scène, dessen montierten Charakter Bernini langsam zur Entfaltung bringt. Der Betrachter wird schrittweise an das Extremum, den äußersten Punkt der Darstellung, herangeführt. Die Cornarokapelle befindet sich im Querhaus der Kirche, man nähert sich ihr seitlich, nicht frontal, vom Langhaus aus. Durch eine Schachtelung von Räumen - des Langhauses, des Querhauses, der Kapelle, also des Einheitsraums von Altar und Stifterlogen - durchläuft der Betrachter die Szene, bis er zum Extremum vorstößt, zum unbetretbaren Altarraum selbst. Bernini hat die Führung an das Heilige, den Höhepunkt des Ganzen, durch eine Lichtregie zu unterstützen gesucht. Gegen das diffuse Licht, das in der Kirche herrscht, hat er durch den Einsatz eines verborgenen Fensters, das vom Inneren der Kapelle nicht zu sehen ist, eine eigene konzentrierte Lichtquelle für die Altargruppe geschaffen. "Es ist ein Licht, das nur das Altargehäuse erfüllt und an der Altaröffnung seine Grenze findet. ... Von anderer Konzentration und Intensität als die gebrochene und zerstreute Helligkeit im Kircheninneren zeichnet es einen Bezirk höherer Erleuchtung aus jenseits des Tageslichts ... . So gipfelt in der Cornarokapelle eine Entwicklung, die die Altarfront zur Grenze der Transzendenz werden ließ.[3]
  6. Die Szene kommt an der Altargrenze zum Stehen und erreicht dort den höchsten Grad der Anziehung an das Außen. Das Auge erblickt, wenn es langsam nach oben schaut, ein wolkiges Gebilde, sein Sehen gerät angesichts des Amorphen in eine Krisis - es gibt nichts zu sehen. Die Wolke schwebt im Innern des Altarraums, Theresa im Zustand ihrer Verzückung ist hingegeben und ermattet auf ihm gebettet, die Augen geschlossen. Gleich einer Verdichtung konzentriert dieses amorphe Wolkengebilde die Attraktion an ein Außerhalb, dessen Transzendenz es aber geschützt hält.
  7. Der ikonographische Kanon dieser Zeit weist Wolke als Symbol für Gottes Gnade aus, die sie aufnimmt, sie ist der Schirm, der die ungebrochenen Strahlen der göttlichen Transzendenz auffängt, sie für den Horizont des Menschen bricht, und sie ist zugleich Medium des Hl. Geistes.[4] Die meta-phora der Wolke steht für die Seite der szenischen Dramaturgie, die das Immer-schon der symbolischen Dimension verbürgt, den Horizont von Sinn, in dem das Exteriore, die absolute Transzendenz, sich einrücken muß. Dies zeichnet den (metaphorischen) Zug der Verhüllung. Zur anderen Seite führt die Wolke gleichsam hinaus, sie bewirkt die Verschiebung der Szene, indem sie deren Statt in der Schwebe, d.h. offen hält. Die Wolke figuriert dieses bewegliche Schweben, welches das déplacement der Heiligen besorgt, die Ver-rückung der Seele Theresas durch das Außen, wobei sie jedes Maß überschreitet, enteignet wird und überwältigt. Dies zeichnet den (metonymischen) Zug der Verschiebung.
  8. Das Zwischen der Wolke reguliert somit die Spanne des extremum als eines äußersten Punktes und des exterior als eines außerhalb Gelegenen. Es bildet die Phase, welche das Geschehen sammelt, es einhält und jenen Ab-stand einführt, der zur einen Seite das Außen evoziert - reserviert für das Genießen Theresas, die Ekstase der Liebesvereinigung mit Gott - und zugleich das Außen zurückweichen läßt, den Exzeß (ver)deckt. Zur anderen Seite verhilft die Verdeckung der Szene selbst (wieder) zur Darstellung, denn dieser höchste Moment der Schwebe ist der Punkt, an dem etwas zur Sichtbarkeit drängt. Damit wird das Feld des Sehens (wieder)eröffnet, wendet sich das Geschehen zurück in die Szene - zu den Stifterlogen, in denen der Betrachter sich dem Zuschauen und der Lektüre widmet -, ein Zurück in den Horizont des Symbolischen, der Metaphern und Gleichnisse des Libro de la vida und in den Sehkreis des Kunstwerks selbst, dem Raum seiner ästhetischen Selbst-entfaltung.[5]

    1. Anmerkungen III


    2. Die Plastik, aus der Zeit der Gegenreformation, ist auf dem Boden des tridentinischen Katholizismus erwachsen. Bernini selbst war ein Verehrer der Schriften des Ignatius von Loyola, dessen geistliche Übungen er regelmäßig zu exekutieren pflegte.Back

    3. Sämtliche Schriften der hl. Theresia von Jesu, a.a.O., S. 151. Back

    4. Hans Kauffmann, Giovanni Lorenzo Bernini, Die figürlichen Kompositionen, Berlin 1970, S. 142. Back

    5. vgl. Hans Kauffmann, a.a.O., S. 158. Back

    6. zur Konventionalität des literarischen Ausdrucks des "Libro de la vida" vgl. Hans Kauffmann, a.a.O., S. 155. Back


    7. artefact